Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku no Kata
Dieser Artikel wurde von Sensei Tom Herold geschrieben.
Diese von KANO Jigoro geschaffene Kata ist eine der interessantesten Formen des Kodokan Judo. In ihr finden sich viele Bewegungen, die hervorragend geeignet sind, die Essenz des Kodokan Judo zu illustrieren. Die korrekte Übersetzung des Namens Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku lautet: System der nationalen Erziehung gemäß dem Prinzip der maximalen Wirkung durch perfektes Ausnutzen der Energie.
Dieser Name bedarf natürlich einer Erklärung. KANO Jigoros Interesse galt auch und vor allem der Didaktik und Methodik der Leibeserziehung der japanischen Jugend. Diese Haltung begründet sein reges Interesse an der Förderung des Sports (nach westlichem Vorbild) in Japan. KANO sah es zudem als selbstverständlich an, daß eine „nationale Leibeserziehung“ in gewissem Sinne als vormilitärische Ausbildung zu erfolgen habe. In dieser Hinsicht wird deutlich, daß KANO Jigoro eben auch ein konservativer, japanischer Nationalist war – wenngleich er diese Haltung mit einer gewissen Weltoffenheit zu verbinden wusste.
Während sportliche Betätigung im feudalen Japan und auch noch zu Beginn der Meiji-Ära als ausschließliche Aktivität einer intellektuellen Elite galt, wurde der praktische Nutzen einer geregelten Leibeserziehung in einer sich modernisierenden Gesellschaft schnell augenfällig. Es stellte sich natürlich die Frage, welche Form diese Leibeserziehung anzunehmen hatte, um den erwarteten Nutzen zu gewährleisten. Verschiedene Versuche, etwa das Turnen (Baelz) oder die sogenannte „schwedische Gymnastik“ (in Japan von KAWASE Motokuro populär gemacht) als Ersatz für die „militärische Ertüchtigung“ (Gakusei) einzuführen, waren gescheitert. Als Direktor der „Höheren Lehrer-Bildungsanstalt“ und als hochrangiges Mitglied des japanischen Erziehungsministeriums sah sich KANO Jigoro daher mit der Frage konfrontiert, welchen Anforderungen eine „ideale“ Leibeserziehung zu genügen habe. Schlußendlich meinte KANO Jigoro, die Antwort in seinem Kodokan Judo gefunden zu haben. Er hatte stets betont, daß Kodokan Judo wesentlich mehr sei als eine bloße Kampfkunst. Nun erhielt er die Möglichkeit, dies unter Beweis zu stellen. Konsequent entwickelte er daraufhin eine von ihm vorher unter anderen Aspekten gelehrte Kata weiter. Diese Kata nannte er, um ihren Wert zu verdeutlichen Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku. Die Grundlagen dieser Kata sind in mehreren bereits im Jahre 1884 im Kodokan praktizierten, sehr effektiven Drills zu finden. An diesen Drills nahm KANO Jigoro einige den Gegebenheiten entsprechende Veränderungen vor und formalisierte sie zu einer regelrechten Kata. Diese erhielt zunächst den bezeichnenden Namen Koboshiki Kokumin Tai Iku (Nationale Leibesübung nach der Form des Angriffs und der Verteidigung), was eindeutig aussagt, zu welchem Zweck diese Form geschaffen wurde.
Im Jahre 1930 wurde dieser Name dann von KANO Jigoro in Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku abgeändert. Nach KANO Jigoros Auffassung stellte diese Form tatsächlich die ideale Leibeserziehung dar. Der Kodokan gab im Jahre 1928 sogar ein Buch heraus, in welchem die Form Koboshiki Kokumin Tai Iku mit vielen Erläuterungen veröffentlicht wurde. Zu Beginn des Jahres 1930 folgte eine weitere Publikation, in welcher die Form Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku ausführlich beschrieben wurde. Letztlich verschmolzen beide Formen, so daß man nur noch von der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku sprach.
Der Begriff des Koboshiki (Form des Angriffs und der Verteidigung) paßte in das Konzept der zunehmenden Militarisierung der japanischen Gesellschaft. Dieser Name gewährleistete nicht nur eine breite Akzeptanz dieser Art der Leibesertüchtigung, sondern auch die wohlwollende Unterstützung hochrangiger Militärs. Dennoch ersetzte KANO diesen Namen, und das aus gutem Grund. Der Begriff des Koboshiki kennzeichnet die rein technische Seite, also den Bezug zu den Kampfsystemen des feudalen Japan. KANO Jigoro aber lag viel daran, sich und sein Kodokan Judo von eben diesen Kampfsystemen abzugrenzen, auch wenn er sein Judo zu Recht als das Erbe dieser Systeme ansah. Er wollte jedoch verdeutlichen, wie sehr sich sein Kodokan Judo von den Kampfstilen des Koryu Jiu Jitsu unterschied. Er hatte zwar die Kampftechniken der alten Schulen übernommen, sie jedoch auf eine völlig neue, wissenschaftliche Grundlage gestellt. Diese neue Grundlage war das Prinzip des maximalen Nutzens bei minimalem Aufwand (Seiryoku Zenyo). Dadurch war es möglich geworden, neue Wege im Training zu gehen (siehe Randori usw.), und eben dadurch war das Kodokan Judo konkurrierenden Kampfsystemen überlegen. Dies alles wollte KANO Jigoro im Namen jener Kata ausdrücken, die seiner Meinung nach die ideale Form der Leibeserziehung war. Dazu merkt Niehaus an:
KANOS ... System bedient sich zwar der technischen Elemente der Kampfkünste, die Konzeption als Ganzes hingegen steht auf der Basis des Prinzips der effektivsten Nutzung der Energie. Diese Verschiebung ermöglicht es zugleich, das System (der Leibeserziehung, Anm. d. Verf.) originär im Judo zu verankern: Denn für KANO war das Judo im weiten Sinne, also das Judo jenseits der sichtbaren Oberfläche, identisch mit dem Prinzip der effektivsten Nutzung der Energie. So kann KANO schließlich konstatieren, dass die nationalen Leibesübungen nach dem Prinzip der effektivsten Nutzung der Energie aus dem Judo im weiten Sinne entstanden seien.
Der Nutzen dieser Kata liegt auch heute noch in der unglaublichen Vielfalt der Möglichkeiten ihrer Interpretation. Wenn man Kodokan Judo (auch) als System der Körpererziehung begreift, dann werden die Bedeutung und der Nutzen der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku augenfällig. Durch das intensive Üben dieser Kata entwickelt der Judoka nicht nur Körperkraft. Die ständigen Wiederholungen der vorgeschriebenen Bewegungsabläufe stärken die Ausdauer, fördern sowohl die Geduld als auch die Selbstdisziplin und verbessern die motorischen Fähigkeiten erheblich. Diese Kata eignet sich u.a. wunderbar als Aufwärmtraining vor Beginn des Randori. Zu diesem Zweck sollte man sie als gymnastische Übung ansehen und ausführen.
Dazu muss man verstehen, dass diese Übungen zwar durchaus für die Anwendung in realen Kampfsituationen gedacht sind, jedoch auch als gymnastische Bewegungen ausgeführt werden können und so einen enormen Nutzen haben im Hinblick auf ihre Wirkung auf den Muskelapparat und die Steigerung der körperlichen Elastizität. Gleichzeitig ist diese Kata eine hervorragende Möglichkeit, die Muskeln nach dem Training im Rahmen des sogenannten Abwärmens allmählich zu entspannen. Dazu sollte man die Kata so gestalten, daß ihre Ausführung eher an die Formen des Tai Chi Chuan erinnert. Weiterhin ist es möglich, Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku zu benutzen, um die sogenannten „Inneren Kräfte“ (Haragei) zu aktivieren. Das bedeutet, daß man diese Kata besonders langsam und kraftvoll ausführen muß, um damit ähnliche Effekte wie bei den Übungen des Chi Gung zu erzielen. Gleichzeitig kann man diese Kata als „Meditation in Bewegung“ betrachten. Eine solche Interpretation dieser Kata eignet sich für alle Altersgruppen, so dass auch Kinder damit vertraut gemacht werden können. Damit wiederum erfüllt die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku eine erzieherische Aufgabe, wenngleich diese heute natürlich eine andere ist als im Japan der zwanziger und dreißiger Jahre. Diese Kata unterstreicht somit auch heute noch den Wert des Kodokan Judo als pädagogisches System. Man darf mithin zu Recht davon ausgehen, dass die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku, betrachtet vom Standpunkt der Körpererziehung, wesentlich mehr darstellt als nur eine besonders wertvolle Art der Gymnastik. Es würde der Vielseitigkeit des Kodokan Judo jedoch nicht gerecht, wollte man die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku nur vom Standpunkt der Körpererziehung aus betrachten. Diese Kata lehrt vielmehr - vom Standpunkt einer effektiven, funktionalen Kampfkunst aus betrachtet - die grundlegenden Bewegungen der Atemi-Waza des Kodokan Judo. Zudem repräsentiert sie das Prinzip des Kobo-Itchi (= Abwehr und Angriff sind dasselbe). Mit Ausnahme der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku werden alle Kata des Kodokan Judo mit einem Partner ausgeführt. Das bedeutet, dass diese Kata sämtlich das Verständnis des Ma-Ai lehren. Ma-Ai erklärt das Konzept der (richtigen) Distanz zwischen zwei Gegnern. Diese Gegner kann man auch als zwei verschiedene Energien betrachten, welche durch die Distanz von Raum und Zeit getrennt sind. Distanz bedeutet hier ganz konkret, dass man sich über die eigene Reichweite und über die Reichweite des Gegners im Klaren ist. Die eigene Technik kann nur dann effektiv sein, wenn man die Distanz präzise einzuschätzen versteht. Präzision bedeutet daher Effektivität. Die Kata des Kodokan Judo, welche mit einem Partner ausgeführt werden, lehren eben diese Präzision in Bezug auf das Ma-Ai. Doch die Lehren, welche man aus diesen Kata ziehen kann (und muß), beinhalten ein weiteres wichtiges Moment. Ma-Ai nämlich bedingt immer auch den Aspekt des De-Ai. Das De-Ai definiert den exakten Moment, in welchem die durch Ma-Ai getrennten Energien (oder Gegner) die Distanz überwinden und aufeinandertreffen. De-Ai beschreibt also auch jenen Punkt, an dem Technik erst wirksam werden kann. Um dabei erfolgreich und effektiv zu sein, muß der Judoka die Kata des Kodokan Judo auch als Wissensspeicher in Bezug auf Tai-Sabaki (zielgerichtetes Bewegen des Körpers), Te-Sabaki (zielgerichtetes Bewegen der Hände) und Kamae (Position und Deckung) verstehen. Das wiederholte intensive Üben der Kata des Kodokan Judo verleiht dem Judoka nach und nach die Kontrolle über sein Hara und ist somit eine perfekte Möglichkeit, das Konzept des Haragei in die Praxis umzusetzen. Die traditionellen Kata des Kodokan Judo, im Sinne einer ganzheitlichen Kampfkunst praktiziert, führen den Judoka zu Beständigkeit und Hingabe. Damit lehren alle Kata des Kodokan Judo die jeder ernsthaften Kampfkunst eigenen kriegerischen Konzepte. Die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku ist dabei die einzige Form des Kodokan Judo, die ohne Partner ausgeführt wird.
Dies verleiht ihr einen ganz besonderen Stellenwert. Es gibt in dieser Kata nicht die in den anderen Kata des Kodokan Judo übliche Kontrolle durch den Partner. Macht der Judoka in den anderen Kata des Kodokan Judo einen Fehler, dann ist dieser deutlich zu erkennen, da der Partner nicht in der vorgeschriebenen Weise reagieren kann. Diese Kontrolle fällt in der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku weg. Damit aber wird dem Judoka von Anfang an eine große Verantwortung auferlegt, denn er allein ist es nun, der erkennen und fühlen muß, ob er die Kata korrekt ausführt. Er allein entscheidet darüber, welcher Interpretation der Kata er den Vorzug gibt. Er allein muß entscheiden, mit welcher Intention er die Kata übt. Der dadurch bedingte erzieherische Effekt ist enorm. Hier finden wir den entscheidenden Schritt zur Selbstdisziplinierung und zur Beständigkeit. Der Judoka wird vor allem durch das Üben der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku körperlich stärker werden. Gleichzeitig aber wird er seine motorischen Fähigkeiten nicht nur sehr gut kennenlernen, sondern diese sogar entscheidend verbessern können. Dadurch wird er zu einem wesentlich ökonomischeren und daher effektiveren Kampfverhalten in der Lage sein. Schließlich und endlich beinhaltet diese Kata die entscheidenden Bewegungen des effektiven Schlagens und Tretens in unspektakulärer und daher oft verkannter Form. Etliche Bewegungen der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku führen darüber hinaus bei aufmerksamer Betrachtung zu den effektiven Verbindungen der Atemi-Waza mit den Wurftechniken sowie den Hebel- und Würgetechniken des Kodokan Judo. Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku ist demzufolge durchaus als eine universelle Form des Kodokan Judo zu bezeichnen. Heute gibt es verschiedentlich harsche Kritik an der Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku. So wurde von einigen Autoren z. B. die Meinung geäußert, die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku sei ja „nur“ eine Kategorie innerhalb des Kodokan Judo. Dies aber schmälere ihren Wert als System der nationalen Leibeserziehung ganz erheblich. Hier soll auch der Grund dafür zu suchen sein, dass diese Form in den dreißiger Jahren (und später) keine allzu große Verbreitung fand. Doch dafür waren letztlich andere Gründe ausschlaggebend – KANO Jigoro nämlich weigerte sich standhaft, den Kodokan vom japanischen Militär vereinnahmen und zu einer Militärakademie umfunktionieren zu lassen ... Es wurde von einigen modernen Autoren besonders bemängelt, dass KANO Jigoro diese Form der Leibeserziehung zu sehr mit dem Kodokan Judo vermische. Nachdem deutlich aufgezeigt wurde, dass die Form Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku selbstverständlich auf das Kodokan Judo zurückgeht, ist der vorstehend geäußerte Vorwurf eigentlich unverständlich. Ob die Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku heutzutage noch als System der nationalen Leibeserziehung bezeichnet werden sollte, sei dahingestellt. In jedem Falle aber ist diese Kata eine enorm wertvolle Form körperlicher und mentaler Übung und gewährt einen tiefen Einblick in grundlegende Zusammenhänge des Kodokan Judo.